Die Lyrikerin Friederike Mayröcker – “Die Idee des Verirrens ist mir ja etwas Schreckliches”
Friederike Mayröcker ist gestorben. Aus unserem Archiv wiederholen wir Andrea Marggrafs 2014 urgesendetes Porträt, das damals anlässlich des 90. Geburtstags der österreichischen Lyrikerin entstanden ist. Wir bitten, die Sendung und das im folgenden dokumentierte Manuskript vor diesem Hintergrund zu verstehen.
“Die Zeit ist eigentlich mein Feind. Die Zeit nimmt mir das Leben weg. Und wenn meine Zeit vorüber ist, dann bin ich eben weg.”
Friederike Mayröcker. Die Grande Dame der Poesie wird 90 Jahre alt.
“Früher war die Zeit nicht mein Feind, aber je älter ich werde, umso feindlicher gestaltet sich die Zeit. Deswegen bin ich auch so dagegen, dass der kommende Geburtstag so… Das ist nicht gut.”
Natürlich will man die Dichterin feiern und ihr danken für die jährlich erscheinenden Bücher, in denen sie die Welt in Poesie verwandelt. In denen selbst die unliebsamen Dinge ihren Schrecken verlieren. Man will mehr hören von diesen energiegeladenen lyrischen, nicht abreißenden poetischen Lebensfäden. So wird Friederike Mayröcker auch in diesem Jahr in ihrer Lebensstadt Wien aus ihren Texten lesen und Fragen beantworten. Fragen zu ihrem Leben – ihrem Schreibleben.
“Ich habe mich schon gewehrt. Aber das wird nicht zur Kenntnis genommen. Für die anderen ist das irgendwie so etwas wie Sensation. Für mich ist es etwas von einem ‘In mich Gehens’ eines Überdenkens meines Lebens.”
Friederike Mayröcker will vor allem eines – schreiben. In ihrem jüngst erschienenen Band “cahier” heißt es.
“Das Reden ist freilich eine Ablenkung vom Eigentlichen, vom Schreiben, nicht wahr … Es braucht so 50, 60 Jahre sich selbst zu erfahren; zu erfinden, nämlich ‘Klein Phantasie'”.
Es sind inzwischen mehr als 60 Jahre, in denen Friederike Mayröcker sich im Schreiben realisiert. Nicht mit “Klein Phantasie”, sondern mit großer Phantasie und Poesie. In jedem ihrer Texte ist zu spüren, dass die Welt für sie ein Wunder ist, wie sie es selbst einmal formuliert hat. Diesem Wunder kann sie sich nur schreibend nähern.
“Und ich kritzele ja den ganzen Tag herum. Es heißt nicht, dass ich das dann verwende, aber es ist da. Es ist eine Möglichkeit, es zu verwenden.”
So liest sie mir einen Text vor, den sie noch am Morgen vor unserem Treffen geschrieben hat. Keinen Computerausdruck hat sie mitgebracht, sondern ein mit ihrer alten Schreibmaschine beschriebenes Blatt.
“He! Schnurrbart he! Fingerchen: eingeschlafen (Franz Liszt aus dem Grammo) 1 Trippeln durch die Laubgehölze, Schneeglöckchen Büschel dein leib: 1 Kränzchen Leibenfrost … anmutig nehme ich mir dies und jenes vor, vergesse wieder darauf, hinreißend das kolossale Bouquet der Schwertlilien ich meine lila Schwerter deiner Wangen, dass es mir das Herz ausstülpte. 25.8.2014”
“Ich schreibe eigentlich ununterbrochen. Ununterbrochen notiere ich. Ich habe nur zu wenig Platz in meinem Kabinett. Und das sind solche Stöße von Traum – Grenzgängen. Ich kann zum Beispiel in der Nacht ganze Sätze aufschreiben, was eine Überwindung kostet, weil man schlafen will, und dann muss man das aufschreiben, aber in der Frühe ist es eine wunderbare Überraschung, was da raus kommt.”
“Kennst du das Land wo die Zitronen blühn im dunklen Laub die Gold Orangen glühn kennst du das Land” Goethe” …Titel für’s nächste Buch “Lyrics” oder “lyrix”
Wohnung voll mit solchen Notizzetteln
Die in der Nacht und am Morgen notierten Zeilen finden sich auf Zetteln und Papieren in Friederike Mayröckers Schreibkabinett wieder. Inzwischen ist die gesamte Wohnung voll mit solchen Notizzetteln. Die Regisseurin Carmen Tartarotti hat das 2010 in ihrem Film “Das Schreiben und das Schweigen” dokumentiert. Selbst die Badewanne dient als Ablage. Hinter dem äußerlichen Chaos steckt jedoch ein System. Chaos entstehe erst, wenn Fremde etwas berühren oder womöglich verlegen, sagt die Dichterin. Gäste werden somit zu einer regelrechten Gefahr für die notierten Sprachbilder.
So treffen wir uns in ihrem Lieblingscafé in Wien. Der Kellner hat ihr die Zeitungen bereits an den Platz gelegt. Und später wird er uns noch eine stille Ecke im Café reservieren. Das letzte Mal haben wir uns vor fünf Jahren gesehen. Äußerlich hat sich die Dichterin kaum verändert. Ihr schwarzes Haar trägt sie immer noch tief in die Stirn gekämmt. Auch ihr Lächeln und ihr Blick haben noch die gleiche warmherzige Ausstrahlung. Wenn sie einen anschaut, fühlt man sich gemeint.
“Mit dem Gehen geht es nicht mehr so ganz gut. Dabei war ich so eine gute Geherin. Ich bin riesig rasch gegangen. Vor drei Jahren bin ich noch gut gegangen. Nun habe ich gewisse Schwierigkeiten.”
“Inständiger Wunsch, dass keine Veränderungen, Verschlechterungen, und nur schreiben wollen und ungestört bleiben und die Sehnsucht, viele Briefe zu bekommen.”
Heißt es in ihrem 1998 erschienenen Roman “brütt, oder die seufzenden Gärten”. Wenn das Alter auch unliebsame Veränderungen mit sich bringt, das Schreiben, diese unablässige Anverwandlung von Wirklichkeit ist ihr bis heute, mit einer unglaublichen Neugier auf alles, was auf sie einwirkt, lebensnotwendiger Antrieb.
“Ein Alpengenuss ist dieses Schreiben, und damit basta!, sage ich, aber das Fragen geht weiter, nein, Ideen habe ich keine beim Schreiben, sage ich, du musst etwas wagen wenn du arbeitest, sage ich, du musst etwas einsetzen, nämlich dein Leben, deine Gesundheit, du musst tollkühn vergehen, ich glaube tollwütig, sage ich, auf niemand Rücksicht nehmen, am allerwenigsten auf dich selbst, alle Regeln des guten Geschmacks außer acht lassen, ja: verächtlich machen, alle Begrenzungen überschreiten.”
Ob Eindrücke aus der Natur, Texte von französischen Autoren wie Ponge oder Derrida, ob Gemälde von Dalí, Miró oder Klimt, die Musik von Bach, Satie oder Dowland – oder die eigenen Träume: Alles inspiriert sie zu ihren Traum-Grenzgängen, die sie in Wortbilder verwandelt. Wie viel tatsächlich Erlebtes und Gelebtes in diesen Wortbildern steckt, kann nur die Autorin wissen.
“Es muss etwas anderes sein als die Realität. Das ist uninteressant. Das würde mich nicht interessieren. Es wird dann ein wenig gebaut. Aus der Realität und aus der Phantasie. Es wird viel montiert. Es ist so ein Knödel.”
In den letzten Jahren hat sie ihre Texte wieder verstärkt einem Datum zugeordnet, was den Anschein von Tagebuchnotizen erweckt. Aber die Texte sind alles andere als spontan niedergeschriebene Notizen. Das, was in der Nacht und am Morgen entstanden ist, wird später in eine Form gebracht.
“Jetzt zum Beispiel bei ‘Etudes’ und ‘cahier’, bei “fleur”, was ich jetzt mache, mache ich immer eine Seite und da drunter das Datum. Dann lese ich es lange. Also ich mache eine Reinschrift und gehe stundenlang damit herum und überlege, ist es gut, ist da ein Fehler. Und wenn irgendetwas ist, dann mache ich das Ganze noch einmal.”
Es gibt Prosagedichte, in denen ihre Bewunderung für die Surrealisten zu spüren ist. Mit ihren Worten setzt Friederike Mayröcker Bilder in Bewegung, die sich in ihrer ekstatischen Unmittelbarkeit jedoch einer narrativen Struktur entziehen.
“Ich laufe den Gegenständen, die immerfort untertauchen, nach, was es heiszen solle, fragte Erika T., dass ich sagte ‘ich habe auf der Toilette etwas vergessen’, ich antwortete es waren Zaubersprüche zu ihrer Erbauung etc. … Burberrys Herzchen, ich trug alte sneakers oder Wellingtons UNTER TROMPETENBAUM und einen beigefarbenen zerschlissenen Burberry, war überglücklich = am Morgen der Abdruck deines Kopfes auf meinem Kopfkissen (während der Hochsommer blaute).”
Sie ist in jedem ihrer Texte zu spüren
Man wird in ihre Wortbilder hinein gezogen, gerade weil man von der Offenheit fasziniert ist, mit die Dichterin über ihre Hoffnungen, Ängste und Wahrnehmungen zu erzählen scheint. Als sie einmal gefragt wurde, ob die Tränen, von denen in ihren Texten die Rede ist, wirklich geflossen seien, antwortete sie mit einem klaren Nein. Trotzdem ist sie in jedem ihrer Texte zu spüren.
“Eine sehr (PARNASSE) Frau, weiszt du, sie getraute sich nicht in Vater’s Anwesenheit Gäste zu empfangen, ach zierliches Motto im Azur nicht wahr, die Sturmfüsze, also die Füsze des Tännchens ich habe heimgefunden ich war in den Wäldern ich habe einen Regenbogen gesehen, was Glück bringt.”
“Ich mache sowieso immer wieder Einschübe, poetologische Einschübe und diese poetologischen Einschübe sind ernst zu nehmen. Da schreibe ich, wie es wirklich ist. Aber nicht in jedem Buch. Am meisten wahrscheinlich im ‘brütt’. Ich kann das so schwer sagen: Es ist so eine Zusammensetzung, oder eine Zusammensetzung von Realem, Phantasierten, Geträumten, Lektüre natürlich, Montage. Das ist immer noch das Wichtigste – die Montage. Und Einfälle, Verbaleinfälle.”
Um sich inspirieren zu lassen, lege sie Reproduktionen von Bildern, zum Beispiel eines Jean Miró, beim Schreiben vor sich auf den Tisch.
“Miró liebe ich. Es ist unerhört, was der gemacht hat. Ich habe sowieso eine große Affinität zur bildenden Kunst. Zur Musik weniger, aber zur bildenden Kunst. Ich sage mir selbst immer: Wenn du nicht schreiben könntest, müsstest du malen.”
Für Friederike Mayröcker wird das Leben zur Poesie. Sehnsucht ist dabei ein ganz zentrales Thema.
“Sehnsucht spielt eine ganz große Rolle in meiner Literatur. Und ich glaube, meine Sehnsucht an und für sich wird immer intensiver – mein Begriff von Sehnsucht … Also ich bin ein romantischer Typ.”
Romantisch hat ihr Leben bereits begonnen.
“Beinahe Weihnachtsstern. Hausgeburt im großelterlichen Schlafzimmer am 20. Dezember 1924.”
Von Mutter und Vater sehr geliebt, kann sie zunächst eine unbeschwerte Kindheit auf dem Land verbringen.
“Mein Vater, Lehrer und leidenschaftlicher Motorist. Intelligent, unternehmend, gesellig, ideenreich. Die Motorräder und die Automobile kamen und gingen. Meine Mutter, Modistin, inspiriert, melancholisch, aufopfernd, liebevoll, den Künsten ergeben.”
Bereits in den frühen Kinderjahren entwickelt sie eine ganz besonders intensive Fähigkeit, die sie umgebende Wirklichkeit wahrzunehmen. Bei unserem Treffen anlässlich ihres 85. Geburtstages erzählte sie mir bereits von den Anfängen dieser besonderen Wahrnehmung.
“In den Sommermonaten mit sechs, sieben, acht Jahren war die Wahrnehmung schon sehr groß. Da war ich in Deinzendorf im Sommer immer. Das ist so ein ganz kleines Dorf im Weinviertel, und da haben meine Eltern einen Vierkanter gehabt, mit riesigem Garten und einem kleinen Gemüsegarten. Und da bin ich halt gesessen vis a vis von dem Garten. Da war ein alter Brunnen, so ein Ziehbrunnen und da habe ich Mundharmonika gespielt. Ich hab natürlich nicht spielen können, aber ich habe mir eingebildet, ich spiel.”
“Ich spür mich heute noch sitzen an diesem Ziehbrunnen. Und da ist eigentlich der Beginn der großen Wahrnehmungen.”
Auch jetzt, mit knapp 90 Jahren, erinnert sie sich gern an diese Zeit in Deinzendorf.
“Das war für mich eine Idylle. Das war wunderbar. Es waren Wiesen, ein Bach, ein Garten, ein riesiger Garten mit Malven, die waren so groß wie ich. Eine Zeit lang so groß wie ich.”
Doch in die Landidylle bricht der Krieg ein, über den sich in ihren Texten keine Worte finden lassen. In unseren Gesprächen werden jedoch immer wieder Erinnerungen wach.
“Viele Momente des Lebens werden ganz stark, intensiv. Dann sehe ich das wie unter einem Vergrößerungsglas. So ein Punkt, der wird so stark, dass ich das Gefühl habe, das war gestern, oder heut. Und dann kann ich auch darüber schreiben. Und vieles sind weiße Flecken. Vieles weiß ich überhaupt nicht mehr, und ich kann mir nicht denken, warum … Die Kriegszeit ist mir so, als wie ich sie nicht erlebt hätte. Die ist mir verhüllt. So, als wenn ich sie nicht erlebt hätte. Und ich habe sie ganz furchtbar erlebt. Wir wurden ausgebombt, und dann waren die Russen da, und da war immer die Gefahr, dass man vergewaltigt wird. Gott sei Dank ist das nicht passiert. Meine Mutter hat mir das Gesicht ganz schwarz gefärbt mit Ruß, sodass die Russen denken sollen, das ist ein hässlicher Mensch.”
Ein Freund des Vaters bietet der Familie eine Wohnmöglichkeit. Hier entdeckt das Kind Friederike Mayröcker eine neue Leidenschaft.
“Das war, wo die Russen die Gulaschkanone unten hatten, und wir in dieser Ersatzwohnung oben waren von einem Kollegen meines Vaters, der auch Lehrer war, und er war nicht ausgebombt. Und ich habe nichts mitbekommen und habe mir diese wunderbaren Kunstbücher angeschaut. Er hatte ein ganzes Kabinett voller Kunstbücher, und ich war ganz eingenommen von diesen Kunstbüchern. Da waren auch der Klimt und einige andere dabei. Eigentlich war es mir egal, was da unten passiert.”
“Ich meine, wenn ich an Ernst Jandl denke, wie der alles aufgenommen hat, den ganzen Krieg und dann selber auch eingerückt und so, der hat das ganz anders erfahren.”
1954 lernt sie Ernst Jandl kennen, den Mann, den sie bis an sein Lebensende begleiten wird. Es ist die Zeit, in der sie neben dem Schreiben noch als Lehrerin arbeitet. Ein Beruf, den sie auf Wunsch ihres Vaters ausübt, der selbst Lehrer war. 1969 wird sie sich von diesem ungeliebten Beruf durch eine Frühpensionierung befreien.
Zu dem Zeitpunkt ist Friederike Mayröcker bereits als Autorin bekannt. Erste Texte hatte sie 1945 in der Zeitschrift “Plan” veröffentlicht, und seit 1956 reißt die Flut der Veröffentlichungen nicht mehr ab. Jedes Jahr erscheinen neben Gedicht- und Prosabänden auch Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte. Mit unzähligen Preisen wurde sie dafür ausgezeichnet.
Ein Beispiel für ihre frühen Gedichte: “Appendix Anhang oder Böllerschüsse” aus dem Jahr 1956:
“Ich mache grosze Pläne wie für ein Haus
Aber ich bleibe im Fries stecken
Ich will dich nicht fangen
Geliebtes Vogelherz Fittichvogel Königsfalter
Schirmfalter Königs – Aal Sonnenmann Eichelhäher
Herrlicher Vogel
Pack mir das Herz aus!
Das Nietzsche Dreieck die roten Vorlagen
Wasser gekräuselt vor bloszen Brüsten
Und das geflüsterte: wir zwei
Und das geschriebene: du und ich
Das Öffnen der Augen vor den Bildern der Ausstellung:
Dasz ich auf einmal greifen lernte
Dasz ich lernte über Wasser zu gehen”
In den frühen Jahren mit Ernst Jandl sind Friederike Mayröckers Gedichte stark von dadaistischen Strömungen beeinflusst. Beide, Jandl und Mayröcker, schließen sich noch in den 50er-Jahren der unter H.C. Artmann entstandenen Wiener Gruppe an.
“Ja, vor allem wurden wir ja nicht wahrgenommen. Also Ernst Jandl, Okupenko und ich, wir wurden einfach nicht wahrgenommen, in den fünfziger Jahren, nach dem Krieg. Die Wiener Gruppe wurde auch nicht wahrgenommen. Es war wirklich so eine Phalanx gegen uns. Wir waren wirklich die schwarzen Schafe bis ungefähr, also bei mir hat es gedauert, bis ungefähr in den 60er-Jahren, dass man mich totgeschwiegen hat.
Ernst Jandl wurde früher wahrgenommen, weil er manche Gedichte, sehr publikumswirksame Gedichte geschrieben hat. Das war aber auch eine Zeit, wo ich sehr stark experimentiert habe, wo ich sehr Purismus betrieben hab. Es hat dann gedauert bis Anfang der 70er-Jahre und dann war es mir selber nicht mehr angenehm, das zu verfolgen, und dann habe ich umgeschwenkt, also richtig 180 Grad umgeschwenkt und hab dann angefangen das Buch ‘Je umwölkter gipfel’ zu schreiben. Da wollt ich dann mal etwas anderes ausprobieren, und ich glaub, das ist mir dann auch gelungen.”
“Lehrstück liliengracht
Wollt es zuerst spuren nennen, sagte er, weil wenn A spräche, käme er allmählich in eine andere spur, nämlich in B’s; wenn dann B spräche, käme B allmählich in eine andere spur, in C’s nämlich; wenn C spräche, käme C allmählich in andere spur, D’s nämlich; wenn D spräche, käme D allmählich in andre spur, in A’s nämlich, wieder, und so fort.”
Jede Art der Kommunikation vor dem morgendlichen Schreiben würde die Gedankenströme zum Erliegen bringen. Um ungestört schreiben zu können, sei es wichtig, allein zu sein – ganz ohne Verpflichtungen, meint die Dichterin. So haben Ernst Jandl und sie niemals ihr Schreibleben in einer Wohnung geteilt.
“Von Anfang an haben wir das festgelegt, nicht zusammen ziehen, keinen gemeinsamen Haushalt, keine Kinder. Jeder geht seinen eigenen Weg, obwohl mir Ernst Jandl immer sehr zur Seite gestanden hat. Also, es ist ja mal um den Georg Büchner Preis gegangen. Er hat ihn schon gehabt. Und ich hätte ihn sollen bekommen. Und da hat ein Kollege gesagt: Ja, aber es bleibt doch in der Familie. Wenn sie ihn bekommen haben, dann braucht ihn doch nicht die Friederike Mayröcker. Ich habe ihn aber dann doch bekommen (Lachen). Das tut weh, so Sachen.”
Eine Seelenverbindung
Ernst Jandl:
“Liegen bei dir. Ich liege bei dir. Deine Arme halten mich. Deine Arme halten mehr als ich bin. Deine Arme halten was ich bin, wenn ich bei dir liege und deine Arme mich halten.”
“Wir haben ja immer getrennte Wohnungen gehabt und ich bin am Abend mit dem Nachtmahl zu ihm gegangen, weil er in der Nähe gewohnt hat. Und er hat mir dann die Gedichte gezeigt, die er während des Tages geschrieben hat, oder ein Gedicht. Ich hab aber nie die Prosa hergezeigt. Erst wie sie fertig war. Ich konnte das nicht. Ich konnte nichts herzeigen. Also Gedichte schon. Gedichte habe ich ihm gezeigt. Aber ich habe ja auch sehr viele Prosabücher geschrieben, und die konnte ich nicht herzeigen.”
Jandl und Mayröcker – eine Seelenverbindung, getragen von einer gemeinsamen Vision.
“Dass wir von Anfang an eigentlich so etwas wie ein Licht so für uns gesehen haben, die Literatur, einfach die Poesie. Die Literatur, das war für uns von Anfang an das große Ziel. Literatur.”
Mit dem Tod von Ernst Jandl am 9. Juni 2000 verändert sich ihr Schreiben noch einmal. Schonungslos offenbart sie Irrtümer, Ängste und Hoffnungen, in denen sich viele Menschen wiederfinden können. Ein Beispiel dafür ist das Buch “Und ich schüttelte einen Liebling”. Geschrieben sechs Jahre nach Jandls Tod.
“Mon dieu warum denen die Mitleid verdienen die Tränen gut tun, Augustinus IV, iv, 10 und ich entwische und fühle mich bereit jedermanns Schuld auf mich zu nehmen weil ich nicht mehr zu unterscheiden vermag zwischen Schuld und Nichtschuld, und ich spiele jetzt die letzte Karte aus nämlich die allerletzte …”
Es ist der Schmerz über den verlorenen Freund, der sie in die Sprachbilder treibt. Erinnerungen mischen sich mit dem im Moment Gesehenen, Empfundenen. Wie in vielen ihrer Bücher setzt sie diese Assoziationsketten in einen dialogischen Bezug zu anderen Dichtern oder Malern bzw. zu Freunden, an deren Worte sie sich erinnert. In “Und ich schüttelte einen Liebling” ist das Gertrude Stein, deren Werk Ernst Jandl ins Deutsche übersetzt hat. Es ist also nicht allein ein Buch über die Trauer um Ernst Jandl, es ist ein Buch über den Prozess des Schreibens. Bei der Suche nach einem Neuanfang werden Erinnerungen aufgerufen und die Angst davor, sich zu verirren, formuliert.
“Die Idee des Verirrens ist mir ja etwas Schreckliches. Aber irgendetwas davon ist in jedem meiner Bücher vorhanden. Das Sich – Verirren in der Sprache. Und sich auch hingeben diesem Verirren, also sich der Sprache hingeben. Das ist, glaub ich, sehr wichtig.”
“Ich habe oft das Gefühl beim Schreiben, da gibt es so Minipausen im Hirn, und da denkt man, diese Formulierung, wer, wem würde die zusagen. Niemand wird sagen, das ist eigentlich schön oder das interessiert mich. Also, das sind so (Momente), wo man sich sagt, wer wird das lesen. Niemand wird das lesen. Dass man sich plötzlich dann sagt, das kann ja nicht sein, dass das jemanden interessiert. Das ist aber mitten im Arbeiten. Mitten im intensiven Arbeiten kommen diese Minipausen.”
“Und vielleicht schreibt man eh nur für den anderen Dichter, für einen anderen Dichter, das weiß man nicht. Und vielleicht für ein paar sensible Menschen.”
Nie die Demut verloren
Friederike Mayröcker hat trotz der großen Anerkennung, die sie als Schriftstellerin erfahren hat, nie ihre Demut verloren.
“Ja, die Demut, das ist für mich ganz wichtig, und viele meiner Kollegen schreiben und leben ohne dem und sind weiß Gott wie eingebildet und konzentriert auf ihren Erfolg. Das will ich alles nicht. Ich möchte in Ruhe gelassen werden und still, wenn es noch ein nächstes Buch, wenn es irgendwie geht, noch ein nächstes Buch zu machen. Wenn mir das vergönnt ist. Jetzt mache ich erst einmal das ‘fleur’, und ich hoffe, dass ich da dran bleiben kann. Das wäre dann der dritte Teil.”
Lange Gespräche erschöpfen sie inzwischen. Die Dichterin darf nicht zu sehr beansprucht werden, auch wenn ich gerne noch lange mit ihr reden würde. Reden mit ihr, die so nah an Weihnachten geboren ist, wie sie es in ihrem Buch ” Das Herzzerreißende der Dinge” beschrieben hat.
“Du bist nahe an Weihnachten, Neujahr geboren, als ob dich die festfrohen Genien so rasch nicht in den Alltag entlassen wollten, freilich ist es schön, sich von vielen Menschen geliebt zu wissen, aber dann ist doch immer wieder die große Einsamkeit, nicht eine, die nach den Menschen ruft, sondern eine, ganz in sich vermummt und aus Angst bestehend, vor einem nahenden Ende … auch vor Finsternissen, da steht darin die Zeit still.”
“Es ist gar nicht lustig. Es ist gar nicht lustig, dass man so einen hohen Geburtstag hat. Man muss auch immer wieder daran denken, dass die Zeit bald ausgeht. Das will man nicht einsehen. Man will das feiern. Ich will gar nicht feiern. Es ist kein Grund zum Feiern.”
“Ich brauche nichts mehr ich brauche niemanden mehr. Nur diesen einen unersetzbaren Menschen dessen Hand. Ich meine dessen Hand mir die Welt erklärt ich meine sobald ich nach der Hand dieses Menschen.”
Der Beitrag wurde am 12. Dezember 2014 erstmals gesendet.