Strom aus dem Nachbarland? Darum könnte es knapp werden

Berlin Der Bericht zum Stand der Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland, den das Bundeskabinett Anfang Februar verabschiedet hatte, zeichnet ein zuversichtliches Bild. Darin heißt es, die sichere Versorgung mit Elektrizität sei im Zeitraum 2025 bis 2031 gewährleistet – trotz des steigenden Stromverbrauchs durch Wärmepumpen, E-Mobile oder Elektrolyseure und auch bei einem vollständigen Kohleausstieg bis 2030.

„Damit kann das auch im europäischen Vergleich sehr hohe Versorgungssicherheitsniveau in Deutschland aufrechterhalten bleiben“, lautet das Resümee der Bundesnetzagentur, die den Bericht für die Bundesregierung angefertigt hat. Ist also die Versorgung mit Strom in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts unproblematisch?

Nicht alle teilen den Optimismus der Bundesnetzagentur. Selbst Klaus Müller, Präsident der Behörde, hat in den vergangenen Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Rechnung nur aufgeht, wenn alles wie am Schnürchen läuft. Und das heißt: Der Ausbau der Erneuerbaren muss voranschreiten und die derzeit fehlenden Back-up-Kraftwerke müssen schnell gebaut werden, die zunächst mit Erdgas und später mit Wasserstoff betrieben werden sollen.

In dem Bericht heißt es außerdem, Deutschland werde sogar „perspektivisch zu einem Nettoimporteur“. Doch auch das steht unter Bedingungen. Es sei erforderlich, dass der unterstellte Ausbau an erneuerbaren Energien „und auch die Investitionen in konventionelle Anlagen in Europa realisiert werden“, so der Bericht. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass Deutschland in Knappheitssituationen verlässlich auf Strom aus den Nachbarländern zurückgreifen kann.

Dass es dazu kommt, ist aber keineswegs sicher. „Europaweit werden disponible Kapazitäten abgebaut“, warnt Alexander Weiss, Leiter des globalen Energiesektors bei McKinsey. Unter disponiblen Kapazitäten versteht man Kraftwerke, die beliebig an- und abgeschaltet werden können, also etwa Kohle- oder Gaskraftwerke. Sie sind damit Garanten für gesicherte Leistung, die jederzeit zur Verfügung steht – anders als Windräder oder Photovoltaikanlagen.

Experte warnt: Bis 2035 weitet sich die „Schere“ aus

„Unsere Analysen ergeben folgendes Bild: Während 2030 die Spitzenlast mit 645 Gigawatt (GW) nur knapp über der gesamten gesicherten Erzeugungskapazität von 637 GW liegt, weitet sich diese Schere bis 2035 auf bis zu 116 GW aus“, rechnet Weiss vor. „Ein möglicher Rückgriff auf gesicherte Leistung aus dem europäischen Ausland im Falle von Knappheitssituationen in Deutschland erscheint auf Basis dieser Analyse optimistisch“, sagt er.

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Die Schlussfolgerungen von Weiss fußen auf einer umfassenden Analyse des europäischen Strommarkts, die McKinsey kürzlich vorgelegt hat. Nach Beobachtung von Weiss steuert Europa auf eine Situation mit „nicht ausreichenden disponiblen Kapazitäten zu“.

Das führe zu wachsenden Unsicherheiten im System. „Viele Situationen mit hoher Last dürften sich künftig nur noch bewältigen lassen, wenn man in hohem Maße auch Verbraucher in die Lösung einbinden würde – mit entsprechenden wirtschaftlichen Konsequenzen“, warnt er.

Darf E-Autos in Notlagen der Stecker gezogen werden?

Was Weiss meint: Die Einbindung der Verbraucher könnte darin bestehen, unter bestimmten Bedingungen Verbraucher vom Netz zu nehmen. Doch das hält der Experte für keine gute Idee: „Die Zukunft der Stromversorgung sollte nicht darin liegen, Verbrauchsspitzen durch Abschaltungen zu glätten. Das ist in geringem Umfang sicher sinnvoll und erforderlich. Aber es darf nicht zur wesentlichen Stütze des Gesamtsystems werden“, sagte er.

„Die Zukunft der Stromversorgung sollte nicht darin liegen, Verbrauchsspitzen durch Abschaltungen zu glätten.“

Alexander Weiss, Leiter des globalen Energiesektors bei McKinsey

In Deutschland wird derzeit kontrovers darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen E-Autos oder elektrische Wärmepumpen künftig vom Netz genommen werden dürfen, um das Netz zu stabilisieren. Die Hersteller von E-Autos und Wärmepumpen sagen, solche Eingriffe dürften nur marktbasiert erfolgen und dürften zu keinerlei Nutzungseinschränkungen oder Komforteinbußen führen.

Die Netzbetreiber dagegen wollen auch steuernd eingreifen dürfen, ohne die Stromabnehmer dafür zu honorieren. Die Debatte ist sehr aufgeladen, obwohl es nicht um großflächige oder längerfristige Abschaltungen ganzer Straßenzüge oder Werksgelände geht.

Weiss hat auch Zweifel daran, dass die Ziele für den Ausbau der Erneuerbaren, die die Ampelkoalition sich gesetzt hat und die Basis für die Annahmen des Versorgungssicherheitsberichts sind, erreichbar sind. Gleiches gilt für den Bau von Back-up-Kapazitäten: „Der Bau neuer Gaskraftwerke ist längst keine ausgemachte Sache. Die Gasturbinenbauer sind auf Jahre ausgelastet – kurzfristig jedenfalls gibt es daher keine zusätzlichen Turbinen auf dem Markt“, sagt er.

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Das Bundeswirtschaftsministerium hat erst am Montag die „Plattform Klimaneutrales Stromsystem“ gestartet. Dabei sollen Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft in diesem Jahr Vorschläge für das künftige Strommarktdesign entwickeln. Zu den wichtigsten Zielen gehört es, die Voraussetzungen für den Bau zusätzlicher Kraftwerke zu schaffen, die immer dann einspringen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Auch in der Ampelkoalition gibt es mit Blick auf den Versorgungssicherheitsbericht Vorbehalte. „Die sehr optimistischen Annahmen zeigen vor allem, dass wir jetzt die richtigen Rahmenbedingungen schaffen müssen. Es braucht dringend ein neues Marktdesign, in dem auch neue Gaskraftwerke gebaut werden“, sagte Lukas Köhler, FDP-Fraktionsvize, dem Handelsblatt. „Die europäische Versorgungssicherheit darf nicht gefährdet werden. Deswegen müssen wir jetzt den europäischen Energiemarkt stärken, aber auch in Deutschland alles dafür tun, dass wir weiterhin zu jeder Zeit ausreichend Strom haben“, ergänzte er.

Offenbar ist man sich auch in der Bundesnetzagentur darüber im Klaren, dass die Schlussfolgerungen des Berichts sehr optimistisch sind. Anders ist schwer zu erklären, dass kurz vor der Beschlussfassung durch das Kabinett noch ein Passus ergänzt wurde, in dem es heißt, um die Versorgungssicherheit unter allen Umständen sicherstellen zu können, „werden und müssen in ergänzenden Betrachtungen explizit auch Szenarien betrachtet werden, die kritische Situationen und hierzu auch weiter ein vernünftiges Worst-Case-Szenario abbilden“. Die Bundesnetzagentur werde „weiter regelmäßig die Sicherheit der Energieversorgung monitoren“.

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